„Jenseits der Kategorie – Die schöpferische Ambivalenz in Udo Scheels Werk: Eine faszinierende Synthese aus Abstraktion und Gegenstand.“
Anlässlich der Vernissage „Treibgut“ am 16.03.2025 in der Nordkapelle der St. Marienkirche in Wismar
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde der Kunst, lieber Udo,
es ist mir eine große Freude, Sie heute hier in der Nordkapelle der St.-Marien-Kirche in Wismar willkommen zu heißen, um Sie zur Vernissage der Ausstellung „Treibgut“ zu begrüßen. Diese Veranstaltung bietet uns die Gelegenheit, einen ganz besonderen Freund, Menschen und Künstler zu ehren: Prof. Udo Scheel. Es ist mir eine große Ehre, Ihnen in den nächsten Minuten einen Einblick in das beeindruckende Leben und Schaffen dieses Mannes zu geben.
Geboren im Jahr 1940 in Wismar, begann Udo Scheel früh seinen Weg in die bildende Kunst. Von 1959 bis 1964 studierte er an renommierten Institutionen – an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, wo er unter der Anleitung von Gert Weber und Otto Coester lernte, sowie an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Diese prägende Zeit legte den Grundstein für seine lebenslange Leidenschaft und seinen Anspruch an künstlerische Exzellenz. In jedem Werk spiegelt sich seine Suche nach Perfektion wider.
Neben seiner Arbeit als Künstler war Udo Scheel Hochschullehrer und Gründungsleiter der Dependance der Kunstakademie Düsseldorf, des Vorläuferinstituts der heutigen Kunstakademie Münster, an der er erst als Professor für Malerei und Grafik (1972–2005) und später als Rektor wirkte (2003–2005). Ämter, die er bis 2005 mit großem Engagement und Hingabe ausfüllte. Als Gründungsrektor und lehrender Professor inspirierte er Generationen von Studierenden und prägte nachhaltig die künstlerische Landschaft. Zudem gründete er die Malergruppe Axiom mit Feuser, Finkeldei, Tadeusz und Rissa.
Seine Arbeiten sind heute in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten. Seit über 60 Jahren bereichert er die Kunstwelt mit Einzel- und Gruppenausstellungen in renommierten Museen und Kunsthallen, darunter internationale Schauplätze wie Peking, Istanbul und Minsk. Über diese bedarf es im Folgenden keiner weiteren Ausführung; sie sprechen für sich selbst und sind jederzeit in den Medien und seinen zahlreich erschienenen Katalogen einsehbar. Im Jahre 2022 ist er in seine Heimatstadt Wismar zurückgekehrt und mit ihm seine Kunst. Hier lebt und arbeitet er nun in seinem Privatatelier in der Altstadt.
Die Wirkung der Malerei von Scheel ist unverkennbar. Wenn man einen Blick auf seine Gemälde wirft, wird sofort seine einzigartige Handschrift deutlich. Mit übergroßen Formaten, die sein exzellentes Gespür für Proportionen und Harmonie unter Beweis stellen, lädt er den Betrachter ein, sich auf eine visuelle Reise zu begeben. Seine Werke sind nicht bloß Bilder – sie sind Erlebnisse. Die kunstvoll eingesetzten Perspektiven, die raffinierten Auf- und Untersichten sowie die filigranen Details zwingen den Betrachter dazu, sich zu bewegen, zu verweilen und die Räume zwischen den Bildern zu erkunden. Der Grafiker in dem Maler Udo Scheel ist stets erkennbar. Manche Gemälde erinnern mich ein wenig an sogenannte Wimmelbilder oder polyszenische Darstellungen. Das sind Bilder, die sich ein Oberthema zum Inhalt machen und passend dazu viele Details und Geschehnisse visualisieren, die gleichzeitig passieren. Berühmte Beispiele hierfür gibt es in der Kunstgeschichte seit dem 15. und 16. Jahrhundert; neben Pieter Bruegel ist hier Hieronymus Bosch wohl der Bekannteste.
Scheels intensive, spannungsgeladene Kompositionen strahlen eine emotionale Kraft aus, die ihresgleichen sucht. Der Künstler glaubt fest daran, dass „Kunst kein Konsumartikel, sondern eine Energiequelle“ ist – ein Credo, das in jedem seiner Werke spürbar wird. Sei es in Malerei, Grisaillen, Radierungen, Grafik oder Gouachen – ob groß oder klein. Seine Kunst gehört in ihrer Deutung stets dem Betrachter. „Ein Bild bleibt ein Bild“. Es geht dem Künstler nicht um das Abbild oder die Veranschaulichung von Sachverhalten, Themen oder Ideologien. Nie wird die Kunst von Scheel für einen vorgesehenen Zweck in Dienst genommen. Im Schaffensprozess seiner Werke manifestiert sich dies. Sein vorrangiges Ziel, ein komplexes, individuelles Bild zu erschaffen, führt auch dazu, dass immer wiederkehrende Elemente im Gemälde entstehen, die nicht im klassischen Sinne erklärbar oder interpretierbar sind und auch keinem äußeren Bezug zugeordnet werden können. Sie sind teilweise einer gewissen Spontanität untergeordnet. Sein Schaffen ist tief im Subjektivismus verwurzelt, ein Prinzip, dem er schon immer folgte.
Das vielschichtige, subjektive Bild des Künstlers basiert zum Teil auch auf notwendigen, spontanen Entstehungsprozessen, die das Bild zu seiner Vollendung führen. Schulen, Stile und Doktrinen vergehen, was zählt, sind die individuellen Leistungen. Je subjektiver eine Malerei ist, umso mehr Chancen hat sie, Neues hervorzubringen.
Scheels künstlerische Sprache entzieht sich festen Kategorien. Udo Scheel bleibt künstlerisch ein ungebundener Einzelgänger. Dennoch bereichert er sein Werk unermüdlich mit dem Wissen und den Erfahrungen aus seiner tiefen Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte. Als Wanderer zwischen den Stilen verbindet er Elemente aus Figurativem, Symbolischem, Abstraktem und Informellem. Wie nur wenige andere versteht Scheel es, die Regeln des einen Genres zu transformieren und nahtlos mit den Elementen eines anderen zu verschmelzen. Diese faszinierende Vielschichtigkeit zeugt von einer tiefen Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte – er zitiert, parodiert und interpretiert mit einem scharfen Blick für das Wesentliche. Vielfältigste Kenntnisse und Erfahrungen lässt er unermüdlich in sein Werk einfließen.
Besonders seine großformatigen Triptychen beeindrucken durch ihre erzählerische Kraft. Manfred Schneckenburger beschreibt sie in seinem Katalogtext als „bedrängend, mit Schnitten, Fragmenten, Fluchten“. Diese Intensität wird ergänzt durch eine geheimnisvolle Ambivalenz, wie sie bereits K.O. Götz in den 70er Jahren in Scheels Werken hervorhob. Die fragmentarisch dargestellten Figuren und scheinbar zufällig angeordneten Objekte fordern den Betrachter zur Auseinandersetzung heraus.
Heute, im Rahmen der Gründung der Gunda- und Udo-Scheel-Stiftung, erhalten wir einen kleinen Einblick in sein umfangreiches Werk. In der Nordkapelle der St.-Marien-Kirche sind vier großformatige Arbeiten ausgestellt: „Treibgut“, „Beute“ und „Salto“ entstanden für die Ausstellung „In alle vier Himmelsrichtungen“ im Kunstraum St. Georgen Wismar, während das Gemälde „Totentanz“ jüngst vollendet wurde.
Beim Betreten der Kapelle fällt der Blick sofort auf das Werk „Treibgut“ an der linken Wand. Das Gemälde strahlt eine geheimnisvolle Atmosphäre aus: Verschiedene, auch bereits tote Lebewesen – teils Menschen, teils Tiere – sind zu erkennen; manche scheinen miteinander in Kontakt zu stehen, andere betrachten das Geschehen aus der Distanz. Wie typisch für Udo Scheels Schaffensprozess, entstand das Werk in einer offenen, sich entwickelnden Form. Es wirkt abstrakt und verschwommen, dennoch bleibt das Figürliche prägend und birgt eine Scheinräumlichkeit. Im Vordergrund steht ein geschwächter Mann, gestützt von einer Frau. Sein Zustand scheint kritisch. Ohne sie würde er davontreiben. Von dort aus zieht sich transversal eine Reihe von Köpfen durch das Bild, die sich aufeinander zu beziehen scheinen. Oben links entwickelt sich die Szenerie in eine eisige Landschaft, die im Kontrast zu einer höllisch anmutenden Szene steht, in der eine Frau, den Blick in die Ferne gerichtet, in einem Kessel sitzt. Unten links ist eine weitere Frauenfigur zu sehen, umgeben von einer leuchtenden Aura. Die Darstellung erinnert entfernt an den Heiligenschein in den Werken Giottos – hier jedoch in einer stark abstrahierten Form. Alles wirkt wie eine Überschwemmung, als wenn alle Elemente seines Lebens in diesem Werk zusammenkommen.
Zu meiner Rechten: „Salto“ – ein Bild voller Dynamik und Umbrüche. Hier wird geangelt, gefangen, das Gewohnte auf den Kopf gestellt. Die bürgerliche Welt tritt in den Hintergrund oder verschwindet gänzlich. Stattdessen dominiert die Artistik, inspiriert durch eine enge Freundschaft mit den Berliner Artisten Caesar Twins – eine Zeit unbeschwerter Lebensfreude und intensiver Erlebnisse. Der Kontakt entstand, als einer der Artisten den Wunsch äußerte, von Udo Scheel in der Kunst unterrichtet zu werden. Deutlich zu erkennen ist, wie ein Artist förmlich aus dem Körper von Scheels Selbstbildnis hervorzutreten scheint. Das Bild ist mittig geteilt, wobei ein dünnes Artistenseil beide Hälften miteinander verbindet. Darauf tanzt eine kleine Frau, während ein Bär – als Anspielung auf Berlin – die Szenerie ergänzt. Auf der linken Bildseite scheinen Frauen in einem Boot zu stehen, die in die Ferne angeln oder gar domptieren?
„Salto“ besticht durch seinen dynamischen Charakter. Das Werk zeigt einen klaren Bruch mit konventionellen Normen: Das Gewohnte wird buchstäblich auf den Kopf gestellt, während die bürgerliche Welt in den Hintergrund tritt. Die linke Bildhälfte, reich an erkennbaren Elementen wie Schuh, Fisch und Wasser, symbolisiert eine vertraute, vergangene Welt, die in diesem Kontext an Bedeutung verliert. Im Gegensatz dazu präsentiert sich die rechte Bildhälfte als eine einfarbige Fläche, deren Reduktion fast so wirkt, als hätte die Zeit den Künstler von seinem eigentlichen Wesen entfremdet – oder hat er sich vielleicht bewusst distanziert?
Das großformatige Gemälde „Beute“ zieht den Blick unweigerlich in seine Mitte: Eine Horde von Hunden formiert sich dort beinahe trichterförmig, wodurch die Szene eine ungestüme, drängende Stimmung erzeugt. In den oberen Bildbereichen schimmert eine Wasseroberfläche, durchsetzt von vereinzelten, rötlichen und hellen Farbakzenten. Rundherum deuten verschwommene Grüntöne auf eine Wald- oder Uferlandschaft hin, die einen naturhaften Rahmen bildet. Im unteren Bereich löst sich die Komposition teilweise in diffuse Farb- und Formfragmente auf, was dem Werk eine gewisse Unschärfe und Tiefe verleiht. Laut Scheel entstand das Motiv unter dem Eindruck von Aufenthalten am Berliner Schlachtensee, wo Hunde frei schwimmen dürfen. Die Mischung aus Wasser, Natur und dem Gefühl der Angst vor dem ungezügelten Wesen der Tiere wird hier künstlerisch verarbeitet. Die vergleichsweise dunkle Farbpalette lässt eine düstere, beinahe bedrohliche Stimmung erkennen, und die aneinandergereihten Hunde rufen Assoziationen an Dantes Inferno hervor. So entsteht hier eine Atmosphäre, in der die Grenze zwischen tierischem Instinkt und menschlicher Kontrolle verschwimmt. „Beute“ verdeutlicht den Zwiespalt zwischen Anziehungskraft und Furcht, den viele Menschen im Kontakt mit Tieren und Natur empfinden. Das Bild wirkt wie eine Aufforderung, sich den eigenen Urängsten und Sehnsüchten zu stellen. Vielleicht auch als subjektiver Ausdruck dessen, wie viel Wildheit wir zulassen und wie viel Sicherheit wir brauchen?
Kommen wir abschließend zum Exponat direkt am Eingang mit dem Titel „Totentanz“. Der Totentanz, französisch auch „Danse Macabre“, wird besonders im Mittelalter in Malerei, Grafik, Relief und sogar Fensterbildern dargestellt. Der „Totentanz“ von Udo Scheel erzählt von den ewigen Zyklen des Lebens und des Todes. Inspiriert unter anderem von Berndt Notkes legendärem Bilderzyklus in der Lübecker Marienkirche (1463, überarbeitet 1701), dessen Originale im Krieg verloren gingen und heute nur noch in Fotografien existieren, entfaltet sich hier ein makabrer Reigen aus Gestalten verschiedenster Herkunft und Stände. Im Bild versammeln sich erhabene und weltliche Figuren: vom Papst über Kaiser, König, Bischof, Herzog, Bürgermeister, Arzt, Wucherer, Kaufmann bis hin zum einfachen Bauern. Den krönenden Abschluss bildet ein ungewöhnlicher Dreiklang: ein junger Herr, ein junges Mädchen und schließlich das Kind in der Wiege – als Sinnbild für den unaufhaltsamen Kreislauf des Lebens, in dem selbst der Anfang untrennbar mit dem Ende verbunden ist.
Die Entstehung von Scheels „Danse Macabre“ ist so bewegend wie sein Motiv. Angestoßen durch die schwere, als unheilbar erkannte Erkrankung seiner Frau, zog sich der Künstler nach Münster zurück und ließ in seinem Atelier seine Trauer in Farben und Formen einfließen. Zunächst in Schwarz-Weiß-Tönen und diffus, gewann das Bild allmählich dezent an Farbintensität und deutlicher Klarheit. Dies ist meines Erachtens als Erkenntnis und Annahme des Unausweichlichen zu verstehen, ohne jedoch die melancholische Grundstimmung zu verlieren.
Tanzen tut immer nur der Tod. Neben seinen klassischen Motiven – den bürgerlichen Möbeln, den Schuhen für die Dame, dem Hut für den Herrn – hat der Künstler hier die Figuren sehr auseinandergerissen. Die Gestaltung ist radikal: Der Künstler löst die Figuren auf, Köpfe scheinen zu zerfließen, und eine chaotische Bewegung zieht sich über die Leinwand. Wie ein unheilvoller Wirbel zieht sie sich über die Stelle, an der einst der Kopf war – der Mann hält ihn nun in der Hand. Die Bewegung aus dem Wirbel heraus zieht eine verwischte Malspur zu der sich auflösenden Frau, sodass beide nur noch als Fragmente ihrer selbst erscheinen. Der Mann, ein Selbstbildnis, und die verschwindende Frau sind im Bild nur noch zerstreut zu erkennen; das Werk ist aufgebrochen, es fehlen Teile – ein Tisch ohne Bein, eine Lampe ohne Strom. Überall dissipieren Elemente im Bild.
Die linke Seite des Bildes ist als „Todesecke“ inszeniert: Von oben ziehen sich Vorhänge zu, wie im Theater, wenn der Vorhang fällt. Alles, was anfängt, hört auch auf – ob Kaiser oder Bauer. Der „Totentanz“ Scheels ist somit nicht nur ein Bild, das den Tod personifiziert, sondern auch eine Mahnung an die Endlichkeit aller Dinge. In seinen fragmentierten Formen, in den Bruchstücken des Vergänglichen, liegt eine tiefe Poesie – eine innerliche Entdeckungsreise zur eigenen Endlichkeit, die in einer simplen Erkenntnis mündet: “And my soul from out that shadow that lies floating on the floor shall be lifted—nevermore!“ („Und meine Seele aus jenem Schatten, der auf dem Boden schwebt, soll gehoben werden – nimmermehr!“) – Edgar Allan Poe, „The Raven“.
Udo Scheels Werke erzählen von einer Reise – SEINER Reise durch die Zeit, durch die Kunstgeschichte und durch die unendlichen Facetten menschlicher Emotionen. Er hat es verstanden, stets mit den Herausforderungen seiner Zeit zu spielen, sich den Kontrasten zu stellen und dabei eine Sprache zu entwickeln, die weit über die Grenzen herkömmlicher Malerei hinausgeht. Er beweist, dass Kunst lebendig ist, dass sie berührt, verändert und inspiriert – eine unerschöpfliche Energiequelle, die uns alle beflügelt.
Lassen Sie uns heute einen Moment innehalten und die herausragende künstlerische Leistung von Udo Scheel anerkennen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und lade Sie ein, sich von Udo Scheels Arbeiten inspirieren zu lassen. Genießen Sie die Vernissage und die anregenden Perspektiven, die uns dieser Künstler bietet.
Vielen Dank!