K.O.Götz

 

K. O . Götz

Der Maler Udo Scheel

Katalogtext Landesmuseum Münster 1975

Es gibt wenige Bilder von jüngeren Malern – ganz gleich welcher Nationalität – die mich spontan begeistern, bei denen ich etwas von dem erlebe, was man in Surrealistenkreisen mit „Funken des Wunders“ bezeichnete. Bei einigen Werken der klassischen Moderne sowie der älteren Kunst mag bei mir dieser Funke öfter überspringen.Vielen meiner Kollegen und manchem Kunstliebhaber wird es ähnlich ergehen, wenn sie ein Museum mit alter und neuer Kunst durchstreifen und nach künstlerischen Höhepunkten fahnden. Diese Feststellung mag trivial klingen, doch fragt man sich immer wieder, woran das liegen mag. War das in früheren Zeiten auch so? Handelt es sich hier um ein Generationsproblem? Sind wir heute mit Kunstausstellungen und Kunstpublikationen so übersättigt, dass wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen ? Oder unterliegen wir einem Gewöhnungseffekt?

André Abraham Moles hat in diesem Zusammenhang auf einen „ Abnutzungseffekt“ bei der wiederholten Betrachtung von Kunstwerken und/oder deren Reproduktionen hingewiesen und diesen Vorgang mit dem informationstheoretischen Begriff der Redundanz zu erklären versucht. Sein Beispiel mit der „Mona Lisa“ ist bekannt. Nur glaube ich nicht an einen derartigen „Abnutzungseffekt“, eher schon an einen Mechanismus der Gewöhnung oder Adaptation, der, wenn er wirksam ist, sicherlich nicht bei allen Menschen in gleicher Weise verläuft. Denn wie ist es sonst möglich, dass Fachleute und Liebhaber seit Jahren immer wieder zu dem einen oder anderen Bild einer Sammlung pilgern, davor in Bewunderung kontemplativ verharren und ein sogenanntes Spitzenerlebnis haben? Dieses Phänomen – das sich grundsätzlich von blinder Bewunderung für einen großen Künstlernamen unterscheidet – widerspricht der Redundanztheorie, denn es besagt, dass ein derartiges Kunstwerk einen Informationsgehalt aufweist, der durch noch so häufiges Betrachten eben nicht reduziert werden kann. Möglicherweise ist es so, dass die Botschaft, die uns solch ein Kunstwerk vermittelt, bei jedem Besuch etwas anders ausfällt, d.h. erneute Innovation liefert, so dass durch wiederholtes Betrachten eine Art Kumulation positiver Erlebnisse eintritt, die einer Gewöhnung oder gar „Abnutzung“ entgegen wirkt.

Wie dem auch sei, es sind immer nur einige Werke, die uns bei wiederholter Betrachtung erneut faszinieren. Das gilt – wie schon gesagt – für die von uns geschätzten Meister der Moderne wie für die Alten. Und bei den Jüngeren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – geht es mir so, dass ich keinen „Funken“ verspüre, nicht einmal den der Überraschung oder des Neuen. Bei den Bildern von Udo Scheel, zumindest bei einigen, ist des jedoch ganz anders. Sein Werk rechne ich zu den wenigen Ausnahmen, bei denen ich persönlich nicht nur von Fall zu Fall angenehme Überraschungen erlebe, sondern wo sich darüber hinaus bei der Betrachtung eben jenes kumulative Phänomen einstellt, von dem oben die Rede war, mag man es nun Faszination oder sonstwie nennen.

Bilder wie „Die Feder“, 1971, „Die Morgenstunde“ , 1971, „ Die Allee“, 1973 und „Sofa“, 1974 lösen bei mir immer wieder eine große Bewunderung aus, so oft ich sie sehe, unter den verschiedensten Begleiterscheinungen und bei verschiedener Stimmungslage. Ganz abgesehen von dieser subjektiven Feststellung möchte ich behaupten, dass diese Bilder in der Öffentlichkeit – wenn sie nicht einfach übersehen werden, weil sie nicht in den aktuellen Stilmischmasch passen – schon wegen ihrer ungewöhnlichen „Thematik“ und ihrer Malweise auffallen müssen. Und derjenige, der sich einigermaßen freihält von modischen Wertungen und Vorurteilen des Kunstbetriebs, müsste vor gewissen Bildern von Udo Scheel nicht nur stutzen, sondern in Bewunderung verharren und sich fragen, wie kommt es, dass ich von diesem Maler nicht schon bei anderen Gelegenheiten Bilder gesehen habe? Es liegt mir fern, jetzt eine stilkritische Analyse zu versuchen, das soll die Aufgabe zukünftiger Kunsthistoriker sein. Ich möchte hier nur kurz auf Einflüsse, Impulse und Vorlieben hinweisen, die für den Maler Udo Scheel meiner Meinung nach wichtig waren.

Da ist zunächst die Malerei des 19. Jahrhunderts. Ich kenne nur wenige Kollegen, die sich so intensiv mit diesem unerschöpflichen Komplex auseinandergesetzt haben, vor allem auch mit den Werken jener Künstler, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wichtige Impulse gegeben haben, wie Füssli, Blake und Ingres. Nicht nur das Werk von

C.D.Friedrich, sondern vor allem die frühen Landschaften und Seestücke von Turner hat Scheel auf mehreren Reisen nach London mit Begeisterung studiert. Sein Interesse für den Symbolismus, vor allem für Moreau und für das graphische Werk von Max Klinger, führte ihn zur Rezeption des Surrealismus, zumindest was den romantischen Kern dieser Bewegung angeht.

Als Student erlebte Scheel den Höhepunkt der Malerei des Informel. Obwohl er nie informelle Bilder gemalt hat, so hat er – im Gegensatz zur jüngeren Malergeneration – die Konzeptionen dieser Malerei begriffen, vor allem die der „ abstraction lyrique“ und des „action painting“. Rhythmische Formelemente dieser Malerei hat er nicht etwa übernommen, sondern sie sind – wenn auch versteckt – ein integraler Bestandteil seiner Malerei. Sie bilden teilweise den Ausgangspunkt beim formalen Ansatz zu einem Bild, beim ersten Entwurf, bei der Untermalung, die in der Regel aus spontan hingeschriebenen Rhythmen und Passagen besteht, die später durch minutiöse Strukturen übermalt werden.

Ein „gegenständliches“ Erlebnis ist jedoch immer der Ausgangspunkt für Scheels Bilder. Er sagt selbst : „Der Anlass für die neuen Bilder (der Jahre 1970-72 ) war jeweils konkreter bezogen auf Beobachtung und Erlebnisse bzw. auf eine bestimmte innere Verfassung, die durch eine ziemlich erlebnis- und konfliktreiche Zeit verursacht war … ich entwickelte mehr Schwung und empfand die schnell hingeworfene Form überzeugender als eine mühsam zusammengebaute. – Außerdem hatte ich begonnen (1970), gelegentlich wieder nach dem Gegenstand (nach der Natur) zu zeichnen.“

Zur Ausarbeitung der minutiösen Strukturen sagt Scheel : „Nach dem spontanen Anlauf, möglichen Zerstörungen, Einbau von Zufälligkeiten und Einfällen habe ich die Bilder immer sehr sorgfältig im Detail durchgearbeitet.“ Was die Wahl gegenständlicher Elemente angeht, so sagt er, dass ihm zunehmend jeder Gegenstand als Vorwand für ein Bild gut genug ist. „Ich stelle fest, dass es Zeiten gibt, wo sich alles in Bilder verwandelt und solche, wo nichts von besonderem Interesse für mich ist. Wenn der Kopf frei ist, könnte ich aus allem etwas machen (in meinen Grenzen, die natürlich auch durch die geleistete Vorarbeit bestimmt sind). Zunächst war es für mich neu und ungewohnt, wieder (wie schon mal früher) Gegenstände zu malen. Mein Anliegen ist es natürlich nicht, Gegenstände abzubilden, sondern an ihnen die Vielschichtigkeit meiner subjektiven Erlebniswelt sichtbar zu machen. Ganz stimmt so ein Satz ja nie, denn ein fertiges Bild lässt sich nicht an den formulierten Absichten messen.“

Scheel erzählte mir einmal, wie sehr ihn ein Hinweis des Dichters Tschechow überzeugt habe, der empfahl, eine Mondnacht (oder vielmehr, wie sie auf den Menschen wirkt) mit der Beschreibung einer kleinen Glasscherbe im Flussbett, die das Mondlicht reflektiert, zu verdeutlichen, anstelle einer bombastischen Gesamtbeschreibung der Szene.

Auffallend an den Bildern nach 1970 ist die Bevorzugung von Grautönen, von Grüngrau und Blaugrau, sowie der Wechsel von tachistischen Partien zu im Detail sehr sorgfältig ausgemalten Partien. Das Geheimnisvolle der gegenständlichen Andeutungen in Scheels Bildern, ja ihre oft ambivalente Gegenständlichkeit, liegt nicht nur an Kombinationen, Verzahnungen oder Verschmelzungen von gegenständlichen mit ungegenständlichen Partien, sondern auch im Wechsel von „plastischen“ zu völlig flächigen Zonen. Plastisch-Gegenständliches wird in die Bildfläche eingebunden. So werden auch die Gegensätze scharf-unscharf, rau-glatt und schwarz-weiß oder hell-dunkel in einen harmonischen Zusammenhang gebracht, der das Ergebnis – von der Gesamtstruktur her gesehen – wie selbstverständlich erscheinen lässt. Aber diese scheinbare Harmonie täuscht nur den oberflächlichen Betrachter. Scheels Bilder sind höchst beunruhigend und voller Überraschungen. –In den neuen Bildern tritt die menschliche Figur häufiger auf als in den früheren. Manchmal sind es auch nur Fragmente, ein Ärmel, ein Kopf oder ein Bein.

Hier möchte ich weiterarbeiten“, sagt Scheel. In seinen Radierungen kommt das Geheimnisvolle, Überraschende, Skurrile noch mehr zum Ausdruck als in seiner Malerei. Die formalen Einfälle und gegenständlichen Verschmelzungen sind hier zahlreicher und treten noch spontaner hervor. Das mag zum Teil an seiner Technik liegen, denn Scheel arbeitet auf Kupferplatten und zwar sehr schnell. Der hohe Dichtegrad der feinen Strukturen erlaubt es ihm, viele Einfälle, gegenständlicher wie formaler Art, unmittelbar unterzubringen, ohne sich dabei in ein unkontrolliertes Fabulieren zu verlieren. Denn von der Großkomposition her sind diese Blätter von fast klassischer Ausgewogenheit. Schaut man aber genauer hin, so ist es, als ob man von magischer Hand in einen verwilderten Garten voller Wunder, Überraschungen, Rätsel und Fallen hineingezogen wird. Mit Scheels Malereien geht es mir ähnlich. Es gibt Bilder, die mich nicht loslassen, Bilder, die vom formalen Einfall her phantastisch gut gelungen sind und die etwas Rätselhaftes, Poetisches ausstrahlen, das mit Worten nicht zu beschreiben ist, und das mir auch der Maler nicht erklären kann – warum wäre er sonst wohl Maler geworden…