Manfred Schneckenburger

Manfred Schneckenburger

Figuren fetzen im Interieur

Katalogtext Kunsthalle Recklinghausen und Museum für Moderne Bildende Kunst, Minsk

2000

Das Bild „Haussegen“, 1993. Der Maler schwebt mit Pinsel und Palette von links in eine wuchtige Wohnlandschaft. Er ist als reine Silhouette ins Profil gebannt. Hat Malen vor allem mit Fläche zu tun? Erstaunlich bei einem Künstler wie Udo Scheel, der den modernistischen Kult der „heiligen Fläche“ (Kurt Leonhardt) nie zelebriert hat, sondern, wie kaum ein anderer, stürzende, jagende Perspektiven in den Raum treibt und Malerei eher als komplexen Balanceakt zwischen Flächenordnung und Tiefensog versteht.

Denn auf dem „Haussegen“ fluchtet- als Kontrastprogramm zur linken Partie?- von rechts eine Kommode steil und heftig in den Raum. Genauer, sie schafft diesen Raum erst, in­ dem sie unserem Auge Richtung und Bewegung gibt. Ein gemaltes ästhetisches Bekenntnis? Raum, der flächig eingebunden bleibt, Fläche, die sich dem Raum aussetzt? Malerei, die beides zusammenbringt?

Ein Konzept der Moderne also, diesseits der kargen Diät, mit der weiße, analytische Bilder in den 70er Jahren Malerei als Fundamentalismus der Mittel zwischen Keilrahmen und Farbauftrag praktizierten. Diesseits jener (fast schon wieder entschwundenen) wilden Malfäuste, die in den 80er Jahren den Markt überrannten. Ja, sogar in deutlicher Distanz zur Malerei der 90er Jahre, die Kunstgeschichte und Realität vor allem als „zerbrochenen Spiegel“ in Brüchen reflektiert.

Der Parforceritt durch drei Jahrzehnte markiert den Kontrast zur gelassenen, ebenso selbstsicheren wie selbstkritischen Malerei von Udo Scheel. Während andere unentwegt letzte Bilder malen oder die Malerei ultimativ novellieren – malt Udo Scheel einfach fort. Keineswegs naiv, weil er die Krisen und Probleme nicht zur Kenntnis nimmt, sondern weil die Tradition der Malerei für ihn eine Lebensäußerung und Reflexion von großer Selbstverständlichkeit bleibt. Dabei ist er alles andere als ein malender Kunsthistoriker, aber er kennt die Kunstgeschichte und geht souverän damit um. Kein pictor doctus, aber einer, der (besonders in den Anfängen) vom Quattrocento über den Symbolismus, über Ensor, Magritte, die Surrealisten bis zur informellen Aktionsmalerei der 50er Jahre vieles in seiner Bilder schließt. Dennoch kein Eklektizist, denn der Schwung dieser Malerei und ihre eigenwillige Brechung ins Mondäne, Preziöse, Erotische, Ironische tragen über alle Anklänge hinweg.

Diese Bilder leben von Gegensätzen. Nicht als simple Contradictio in adjecto, nicht als modernistisches Patentrezept, wohl aber als Zusammenklang von skripturaler malerischer Geste, von Patzer, Wischer, Fleck mit dem alten Erbteil von Perspektive und Modellierung – eben nicht im Widerspruch zur schieren Malerei, sondern als deren Bereicherung. Das Reinheitsgebot zur Fläche war ohnehin nur eine vorübergehende amerikanische Ideologie.Deshalb wäre auch die Frage, ob Udo Scheel nun abstrakt oder gegenständlich malt, falsch gestellt.Er kennt keinen Gegensatz. Seine reifen Bilder sind Zwischenwelten aus gestischer, strudelnder Energie und illusionistisch präsentierten Möbelstücken, Filzhüten, Cocktailgläsern oder, immer wieder, Mann und Frau im Schnittpunkt sich kreuzender Diagonalen. Er durchspannt den Bildraum, schießt mit Farbbächen darüber hinaus, setzt zu Erzählungen oder Handlungen an, um sich gleich wieder im Gestrüpp der vehementen Aktionsmalerei zu verfangen.

Wichtig ist: Jedes ablesbare Detail besitzt das gleiche Formgewicht wie der abstrakte Pinselduktus. Auseinander dividieren lassen sich Ikonographie und Handschrift nicht. Die Frage, ob ein ausfahrender Pinselhieb das Froschbein evoziert oder umgekehrt, ist müßig. Beide sind aus einem Guss. Hunde gehen in Fleckenmuster und Fleckenmuster in Hunde über. Alles ist ein wenig Talmi und gerade deshalb so echt, weil es nur als Malerei existiert. Malerei ist nicht teilbar (z.B. in peinture und Illustration) – oder sie ist keine Malerei. Deshalb konzentriert Udo Scheel ganze Enzyklopädien malerischer Möglichkeiten in einem einzigen Bild. Ein Spektrum von Fläche und Tiefe, Fleck und Linie, Modellierung und Auflösung, Farbgewimmel und Graphismen, stumpfen und glänzenden, spiegelnden Oberflächen. Extreme Kontraste, ja Widersprüche mit Verve, Intelligenz und Malkultur vereint. Weder Fläche noch Tiefe, sondern das Bild ist die letzte Instanz.

Dennoch zielt Udo Scheel auf Motive. Er ist einer der wenigen deutschen Maler, die eine Lebenswelt kultivieren und ironisieren. Er inszeniert Life Style (der 20er? 50er Jahre?). Er jongliert wie ein malender Rastelli mit Nierentischen, Kaffeetassen und sonstigen Accessoires. Alle wirbeln wie Fluggeschosse durcheinander und sind unterschwellig für einen Schuss exquisiter Psychoanalyse gut. Doch die erotische Symbolik wahrt Grenzen der Eleganz, denn Udo Scheel greift auch auf die schnittige Stilisierung von Modezeichnungen und das Sentiment alter UFA-Filme zurück. Das spitzhackig beschuhte Personal dient so keineswegs nur als schlanker Richtungsweiser in die Tiefe oder über die Fläche. Es stimuliert eine ebenso vitale wie dekadent angehauchte, ebenso noble wie abgewetzte, aus den Fugen geratene Welt als demi-monde.

Eine staunenswerte, bald vierzigjährige Kontinuität! Ein ebenso weiter Bogenschlag! Die Anfänge sammeln sich im Umfeld von Tachismus und abstraktem Expressionismus, laden sich jedoch schon früh mit Erinnerungen an den Jugendstil, mit floralen, biomorphen Geflechten und postsurrealistischen Traumwelten auf. Im Bild „Figuration“ versichert der 20jährige sich 1960 der aktuellen Fleckenmalerei. Gleichzeitig deutet sich, wie in einem Vexierbild, Gegenständliches an. 1969 holt er das erste illusionistisch gemalte Requisit ins Bild: eine gespiegelte Tasse vor einer Landschaftsphantasie. Sehr vereinfacht gesagt, sind die Weichen zwischen Informel und Figur/Gegenstand seitdem gestellt. Schon damals schwimmt Udo Scheel, auch und gerade wo er Zeitströmungen mitführt, gegen den Strom.

Anfangs der 70er Jahre strafft der Pinselstrich sich vom fast zärtlichen, modellierenden Zugriff auf Stilleben und verträumte Berge zu federnder Spannkraft, gewinnt an abstrakter Energie und aperspektivischer Räumlichkeit. Auf die Leinwand geworfene Malfetzen, flirrende Kommaschwärme, rasante Schlenker fegen die stille Szenerie aus der Balance. Auch die Hauptmotive stehen jetzt bereit: Frau, Mann, Paar, Mobiliar, Gefäße in jeder Version, Feder, Fisch. Udo Scheel entlädt sein malerisches Temperament jetzt mit Verve, manchmal im Risiko, dass einiges anfangs der 80er Jahre glatt und effektvoll hingehauen wirkt. Ein Virtuose spielt auf. Doch bald werden die Verschleifungen wieder komplizierter, die Brüche härter, die Spiegelungen verwirrend, die Reflexe springend. Männliche und weibliche Kunstfiguren verlieren, obgleich manchmal fast heraldisch zu Siamesischen Zwillingen verschweißt, Boden und Halt. Sie schweben, rutschen, knicken aus der axialen Stabilität. Ihr tänzerischer, spindelspitzer Bewegungsreichtum tendiert zum Manierismus. Das Kreisende, Kreiselnde gehört zu den Grundfiguren von Udo Scheel. Selbst die verschüttete Flüssigkeit aus der Vase entzieht sich dem Gesetz der Schwerkraft und dreht sich im zentrifugalen Sog. Das informelle Dickicht zieht sich zurück und macht offenen Flächen Platz. Viel Licht, Transparenz, Bewegungsraum, in denen Flächenfiguren eingeschrieben sind. Auch die Farbe wird reduziert. Manchmal beschränkt sie sich auf die Noblesse der Grisaille, in der aller Schwung den Konturen gehört.

Vor allem aber: Graphismen mischen sich ein. Linien umreißen straff gelängte Tangojünglinge mit ihrer Partnerin. Udo Scheel aktiviert die Spannung zwischen Malerei und Zeichnung und bringt so eine neue klirrende, berstende Einheit hervor.

Wir nähern uns den großen, bedeutenden Bildern der 90er Jahre. Nicht zufällig greift Udo Scheel jetzt mehrfach auf das Triptychon zurück. Klaus Lankheit hat es eine „Pathosformel“ genannt, die zu gewichtigen Inhalten, zur Botschaft drängt. Auch bei Udo Scheel wird der Auftritt der Bilder mit den großen Formaten dramatischer. Nicht selten ist die Dynamik der Kontraste triptychonal angelegt. In den mittleren Partien sprüht und gischtet eine tachistische Brandung. Nach außen schlägt die expressive Aktionsmalerei hohe Wellen. Der Vortex zieht Personen wie Requisiten in seinen Sog. In den mächtigen Breitformaten wird die Textur dann massiver, schwerer und schiebt sich zusammen wie Schollengang. Das Tohuwabohu des Fleckenteppichs verdichtet und verdunkelt sich. Die Perspektive zielt schärfer, aggressiver. Ihre Rammstöße in die Tiefe gewinnen an Wucht und Wut- das bürgerliche Interieur gerät vollends außer Rand und Band und lässt Dramen ahnen, die sich nur äußerlich einer absurden Slapstick-Choreografie nähern. Vasen stürzen wie von Poltergeistern gekippt. Auch die Paare stoßen härter aufeinander, bis zu völliger Erschöpfung oder nackter Gewalt. Hunde und springende Frösche halten mit. Die „Feier des Tages“ endet in gekappten Anatomien und schlapp nach unten hängenden Köpfen. Liebenswürdig ist diese Welt nicht mehr. Selbst der kräftige Schuss Ironie deckt ihre Wunden nicht zu. Udo Scheel entfernt sich immer weiter vom Dekorativen, Stromlinienförmigen, Leichthändigen. Diese großen Bilder, besonders die Triptychen, sind nicht mehr souverän verspielt oder brillant mondän, sondern bedrängend, mit Schnitten, Fragmenten, Fluchten, wo die Szene früher ambivalent, ja heiter war. Durch manche Kompositionen geht ein Riss. Udo Scheel setzt jetzt auf härtere Kontraste. Doch alle Kontraste bleiben letztlich Kontraste der Malerei.